2013•123 - T E X T:
anderen Seite.
Ohne Stimme und Ohr wären keine Rede,
kein Gespräch, keine Überlieferung möglich.
Was am Morgen erfahren wird, wird
am Anfang des Lebens erfahren. Wenn
dem so ist, warum kann dann Konfuzius
nicht bereits im Mittag beruhigt sterben
bzw. warum ist der Hinweis auf den
Abend so wichtig? Der Abend steht für
das Ende des Lebens. Gleichzeitig offenbart
sich hier aber auch ein kosmologisches
Muster. Wenn ich am Abend beruhigt
sterben kann, kann ein anderer am
Morgen, d.h. in der unmittelbaren Zeit
nach mir, das Tao erfahren wollen und
ebenfalls beruhigt sterben. „Am Morgen,
am Abend“ (zhao ... xi) ist bekanntlich
eine feststehende rhetorische Redeform,
die mit Wendungen wie „Himmel und
Erde“, „oben und unten“, „nah und fern“
den kosmologischen Zirkel im chinesischen
Denken bildet.
Nochmals zurück zu der Frage, warum
kann jemand, der „am Morgen das Tao
vernimmt, am Abend unbesorgt sterben“?
Konfuzius verrät uns nicht, was
der Mensch, der das Tao erfahren hat, bis
zum Abend, bis zu seinem Tod den ganzen
Tag über tut. Wir dürfen vermuten,
daß dieser das Tao lebt und weitergibt,
so daß ein anderer es am Morgen erfahren
kann. Der Mensch bliebe bei vorzeitigem
Tod bzw. bei Untätigkeit nicht nur
der Welt, sondern auch sich selbst etwas
schuldig. Was ist aber mit einem, der das
Tao nicht erfahren hat, und, sei es im Mittag,
sei es am Abend, stirbt? Der ist sich
und der Welt etwas schuldig geblieben.
Wie äußert sich das? Für ihn wird es kein
Gedächtnis geben, weder in einem Ahnentempel,
noch in der Familie und erst
recht nicht im Schrifttum, das eine der
drei Formen der Unsterblichkeit garantierte.
Niemand wird seiner gedenken,
denn er hat die Kette der Überlieferung
unterbrochen. Seine Seele ist dazu verurteilt,
im Weltraum sang- und klanglos
zu versinken. Sang- und klanglos, weil es
keine Worte und Lieder der Nachfahren
geben wird, die seinen weiten Weg begleiten.
Das Tao am Morgen vernehmen bedeutet
immer, es aus dem Mund eines anderen
zu vernehmen. Dieser andere kann nur
ein Lehrer oder ein Elternteil sein, kurz,
jemand der älter ist, und dessen Sprache
ich von seinem Munde ablese. So wie ein
Kleinkind durch Nachahmung mütterlicher
oder väterlicher Lippenbewegungen
das Sprechen lernt, so eignet sich
ein Schüler auch das Tao durch Hören
und Imitieren an. Folglich lautet das erste
Wort der Gespräche (I.1) nicht anders
als xue, nachahmen, was dann im Laufe
der Zeit zu „lernen, studieren“ wurde,
eine Tätigkeit, die „zu pflegen“ (xi) war.
Richard Wilhelm übersetzt:
Der Meister sprach: »Lernen und fortwährend
üben: Ist das denn nicht auch
befriedigend?[..]«
Wir können auch übersetzen: Etwas
nachahmen [, was wir von anderen vernommen
haben] und es fortwährend
wiederholen, das ist [wahre Lebens]
Freude. Das hier postulierte Glück ist
natürlich nur möglich, wenn es denn
überhaupt etwas zu lernen gibt, und das
setzt jemanden voraus, an dessen Lippen
wir hängen. Wir verstehen nun, warum
für Alfred Hoffmann die Mahnung, es ist
wichtig, einen guten Lehrer gehabt zu
haben, so wichtig war. Glück und Unglück
der menschlichen Existenz liegen hier
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