2013•127 - T E X T:
und mache ihn zu meinem Lehrer. Wer
nach mir geboren ist, aber vor mir das
Tao vernommen hat, soll auch mein Lehrer
sein. Mein Lehrer nämlich ist das Tao.
Das Tao körpert sich also unabhängig
von der Natur und der Macht einem Menschen
ein. Aber es manifestiert sich nicht
in einer einzigen Gestalt, weswegen „die
Heiligen keinen festen Lehrer kannten“
(sheng ren wu changshi). Und keiner der
vier Lehrer des Konfuzius, die Han Yu namentlich
anführt, seien klüger als dieser
gewesen! Was schließen wir daraus? Daß
das Tao keine Endgestalt kennt und sich
in jedem Menschen anders offenbart.
Anscheinend ist die Ganzheit des Tao im
Konfuzianismus, der die Erleuchtung anders
als der Maoismus oder Buddhismus
nicht kennt, nur im Konzert der Stimmen
zu vernehmen. So gesehen wäre Konfuzius
nicht nur der bescheidene, sondern
auch der unvollkommene Heilige, oder
einfacher gesagt, der menschliche Heilige,
der um seine Mängel weiß und deswegen
anderen eine Perfektion zusprechen
kann, die er für sich selbst nicht
vorauszusetzen wagt.
Es ist bislang eher von den Vätern als von
den Müttern die Rede gewesen. Manch
einer unter Ihnen mag aufhören und fragen,
wo denn die besondere Würdigung
der Mütter bleibe. Die Geschichte der Erziehung
in China kennt zwar das Bild des
„strengen Vaters“ und der „gütigen Mutter“,
aber sie kennt auch die berühmte
Geschichte vom kleinen Mencius (Meng
Zi, 372-289) und seiner rigorosen Mutter.
Die verwitwete Mutter, erpicht darauf,
daß aus dem Söhnchen einmal der
große konfuzianische Philosoph werde,
den wir heute lieben und verehren, zieht
ständig um, damit das Kind die richtige
Umgebung habe und, statt auf Friedhöfen
oder Märkten herumzutollen, in der
Nähe einer Unterrichtsanstalt auf andere
Gedanken komme. Als auch dies nichts
nutzt und das Knäblein mit den Worten
„So lala“ seinen Schulbesuch kommentiert,
da zerbrach sie das Schiffchen im
Webstuhl (Sanzijing 9-12).
Auf diese Weise, so will es die Überlieferung,
veranschaulichte sie dem Kleinen,
was es bedeutet nur „so lala“ dem Unterricht
beizuwohnen. Wir schließen daraus,
daß eine Mutter für die Erziehung
ebenso wichtig ist wie ein Vater oder ein
Lehrer, ja, wir dürfen mit Rückgriff auf
das Gemälde „Die verkehrte Welt“ von
dem niederländischen Maler Jan Steen
(1625-1679) folgern, daß eine Gesellschaft,
in der die Mütter keine Obacht
haben, aus den Fugen gerät. Wo „Mutter
schläft“, so das Bild, hält das Laster Einzug.
Ob groß oder klein, jung oder alt, ob
späterer Weiser oder frühes Genie, ob
Chinese oder Europäer, alles bedarf so
gesehen einer wachen Mutter. Insofern
ließe sich das berühmte chinesische Diktum
„Wer einen Tag dein Lehrer war, ist
ein Leben lang dein Vater“ (yiri wei shi,
zhongsheng wei fu) durchaus umformulieren:
„Wer einen Tag deine Lehrerin
war, ist ein Leben lang deine Mutter.“ Gemeint
ist so oder so: Die Erkenntnis, die
wir in der Kürze der Unterrichtszeit gewinnen,
sollte uns dankbar machen ein
Leben lang. Es ist eben dies, was Alfred
Hoffmann wohl gemeint haben mag: Ein
guter Lehrer vermittelt etwas im Bruchteil
eines Moments, was bis ans Ende der
Tage, in den Abend nämlich, trägt, so daß
wir einmal beruhigt sterben können.
Es ist heute kein Geheimnis mehr, daß alle
bedeutenden Männer des modernen
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