2017•196 - T E X T:
Kurzschrift-Künstlerin im Bundestag
Rheinenserin Annemarie Mersch (25) arbeitet als Stenografin in der Bundeshauptstadt Berlin
Wenn ein
Nachrichtensprecher eine
Meldung vorliest, entspricht
sein Redetempo durchschnittlich
250 Silben pro
Minute. Annemarie Mersch
kommt im selben Zeitraum
auf 300 Silben – handgeschrieben.
Die 25-jährige
Rheinenserin ist Stenografin.
Seit September arbeitet sie
beim Deutschen Bundestag.
„Geübte Stenografen können
bis zu 475 Silben pro Minute
protokollieren“, sagt
Mersch. Noch sei ihre Ausbildung
aber nicht abgeschlossen,
denn an der dritten Stufe
der Kurzschriftkunst, der sogenannten
„Redeschrift“, arbeite
sie noch. Bislang begleitet
die junge Frau im Bundestag
ihre Ausbilderin, die
ihr unterstützend zur Seite
steht. Trotzdem sitzt Annemarie
Mersch bereits regelmäßig
im Plenum und protokolliert
die Reden der Politiker,
die dort debattieren.
„Zu Beginn des Tages besprechen
wir den Turnusplan,
denn mehrere Stenografen
wechseln sich im Abstand
von fünf Minuten ab“,
berichtet Mersch. Zwanzig
Sekunden bleiben ihr, nachdem
sie am Tisch der Stenografen
Platz genommen hat,
um durchzuatmen, dann
geht es los. Nachdem sie fünf
Minuten lang das Gehörte
niedergeschrieben hat, verlässt
sie den Plenarsaal,
gleicht ihre Aufzeichnungen
mit einer Tondatei ab und
überträgt sie in eine Langfassung.
Die Uhr tickt: Nach 80
Minuten muss sie zurück an
den Stenografentisch, dann
beginnt ihre nächste Fünf-
Minuten-Schicht.
„Die Arbeit eines Stenografen
kann keine Maschine ersetzen“,
ist sich die junge
Frau sicher. Denn: Die
Schnellschrift-Experten protokollieren
nicht nur das Gesagte,
sondern achten auch
auf Reaktionen des Plenums,
recherchieren Fakten und
Zahlen und kontrollieren die
Echtheit von Zitaten.
Während Annemarie
Mersch von ihrem Arbeitsalltag
erzählt, demonstriert sie
die Kunst der Stenografie, die
auch „Engschrift“, „Kurzschrift“
oder „Schnellschrift“
genannt wird, auf einem
Schreibblock. Vokale werden
nicht geschrieben, sondern
durch die Verbindungen der
Konsonanten erzeugt – je
nach Bindeglied unterscheidet
man, ob etwa von „Bett“
oder „Boot“ die Rede ist. Was
für Außenstehende wirkt wie
eine Fremdsprache, ist ein
ausgeklügeltes, sorgfältig einstudiertes
System, welches
das schnellstmögliche Protokollieren
gewährleistet. Für
besonders häufig genutzte
Wörter werden Kürzel, also
entsprechende Symbole, genutzt.
Dazu zählt etwa das
kleine Wörtchen „und“ ebenso
wie prägnante Schlagwörter,
beispielsweise „Politik“
oder „Finanzkrise“. Aber Annemarie
Mersch weiß auch:
„Jeder stenografiert ein kleines
bisschen anders.“
Die 25-Jährige begeistert
sich seit dem Kindesalter für
„Steno“, wie sie sagt. Mit
zwölf Jahren begann sie, ihre
Kurzschrift-Fähigkeiten zu
schulen, es folgten Erfolge
bei Meisterschaften rund um
den Globus. Das Talent
kommt nicht von ungefähr:
Nahezu ihre gesamte Familie
widmet sich mit Leidenschaft
der Stenografie, Merschs Eltern
lernten sich im Stenografenverein
kennen, ihr Lebensgefährte
ist Vizepräsident
des Deutschen Stenografenbundes.
„Es war aber
mein eigener Antrieb, der
mich zur Stenografie gebracht
hat“, betont die junge
Frau. „Meine Familie hat
mich immer unterstützt, aber
ich habe mich eigenständig
für diesen Weg entschieden.
Ich wollte das unbedingt.“
Nach ihrem Abitur im Jahr
2010 am Gymnasium Dionysianum
in Rheine studierte
Annemarie Mersch Germanistik
und Medienwissenschaften
in Düsseldorf, die
Masterarbeit steht nächstes
Jahr ins Haus. Während des
Studiums in Düsseldorf sammelte
die junge Frau bereits
Berufserfahrungen: „Ich arbeitete
aushilfsweise im Stenografischen
Dienst des
Landtags NRW und konnte
dort wichtige Kontakte knüpfen,
aber auch die Arbeitsweise
kennenlernen“, sagt
Mersch. „Irgendwann wurde
ich darauf angesprochen,
dass beim Deutschen Bundestag
eine Stelle ausgeschrieben
sei.“ Die Talentscouts,
die der Deutsche Bundestag
regelmäßig zu den
Kurzschrift-Jugendmeisterschaften
aussendet, hatten
Mersch ohnehin schon zuvor
angesprochen – und so kam
eines zum anderen.
Nun lebt Annemarie
Mersch in Potsdam und arbeitet
regelmäßig dort, wo
wichtigste politische Entscheidungen
getroffen werden.
„Schon in meiner ersten
Arbeitswoche war die Kanzlerin
vor Ort“, erinnert sich
Mersch. „Der Landtag in Düsseldorf
wäre zwar näher gewesen,
aber die Möglichkeit,
in Berlin zu arbeiten, konnte
ich nicht ausschlagen.“
Noch befindet Mersch sich
in der Anfangsphase ihrer
Karriere. Nun gilt es, die Redeschrift-
Kenntnisse zu verfeinern
und die Namen aller
630 Abgeordneten auswendig
zu lernen. Aber sie ist
sich sicher, ihren Traumjob
gefunden zu haben: „Hier
beim Bundestag treffe ich auf
die Elite der Stenografen“,
sagt die 25-Jährige. „Außerdem
erlebe ich Politik hautnah.“
Am 12. Februar findet die
Wahl des Bundespräsidenten
durch die 16. Bundesversammlung
in Berlin statt.
Annemarie Mersch freut sich
bereits auf das wichtige politische
Ereignis: „Mal sehen,
ob ich eingesetzt werde.“
MV vom 30.12.16
Annemarie Mersch
Stenografin im Bundestag
Abi 2010
|
|