2010•026 - T E X T:
Zum Glück hatte in der letzten Woche
Jürgen Habermas Geburtstag. Er wurde
80. „Der Staatsphilosoph!“ Wie Joschka
Fischer ihn nannte. Bei ihm musste ich
etwas finden, das wichtig sein konnte.
Schließlich hat er sich ja mit der Kommunikation
beschäftigt als der Grundlage
der Gesellschaft. Wie kann Kommunikation
gelingen? Das ist sein Thema. Der
Philosoph, der sich mit dem beschäftigt,
was alle angeht! Ich las die vielen Artikel
in der ZEIT , der Frankfurter Rundschau
und der FAZ über Habermas und stieß
auf sein entscheidendes Schlüsselerlebnis:
Noch im Februar 1945 musste der damals
15jährige an den Westwall, an die
Front. Und einen Monat später machte er
die Erfahrung seines Lebens: Die stolze
Herrenrasse war durch lässige, chewinggum
kauende und zum Teil sogar schwarzen
Amerikaner, Neger, wie man damals
noch sagte, besiegt worden. Alles, was
noch vor wenigen Tagen selbstverständlich
gewesen war, galt nicht mehr. „Was
immer der Feind gewesen sein mochte ...“,
schrieb Arno Widmann (über Habermas
in der Frankfurter Rundschau, 18.6.09)
„jetzt bestand die Möglichkeit, in ihm seinen
Freund zu entdecken.“
Viele Menschen, die im III . Reich mitgelaufen
oder von der NS-Ideologie überzeugt
waren, sahen in den Siegern diejenigen,
die den Krieg beendet hatten
und denen man den späteren Wohlstand
verdankte. In einem manischen Wiederaufbau,
wie Margarete und Alexander
Mitscherlich das Wirtschaftswunder
nannten, (Die Unfähigkeit zu trauern,
1967) machten sie die Verbrechen der
Vergangenheit ungeschehen. Deshalb fiel
es vielen Menschen nicht schwer, sich
„der Wirklichkeit“ „anzupassen“. Eine demokratische
Kultur im öffentlichen Raum
wurde ja auch nicht verlangt.
Habermas aber betrachtete nicht nur die
Wirklichkeit der neuen Bundesrepublik
mit Skepsis, sondern die Wirklichkeit
generell. Keine Wirklichkeit sollte jemals
wieder so mächtig sein, dass sie nicht
auch anders gedacht werden könnte.
Ich fragte mich: Wie kam es zu dieser radikalen
Infragestellung der Wirklichkeit?
Die Antwort ist verblüffend und einfach:
Als ich Jürgen Habermas das erste Mal
sah, war das in einem Film: Habermas
hielt den gegen die Väter rebellierenden
Studenten die Trauerrede für den
am 2. Juni 1967 erschossenen Benno
Ohnesorg. Habermas war einer der wenigen,
die sich öffentlich gegen die herrschende
Meinung den Studenten im Dialog
stellten! Alles, was ich in dem Film
sah, faszinierte mich. Eines aber ganz
besonders. Habermas war schwer zu verstehen.
Er hatte eine Gaumenspalte. Und
verschiedene Studenten, die ich später
traf und die bei Habermas studiert hatten,
machten liebevolle Witze über seine
Nuschelei.
Das war nicht immer so gewesen. Die Nasalierung
und seine verzerrte Artikulation
führten dazu, dass das Schulkind Habermas
nicht verstanden wurde und als
Behinderter mit seiner unverständlichen
Sprache abgelehnt wurde. Zugleich wurde
er sich durch das Nicht-verstandenwerden
seiner ausgrenzenden Behinderung
und seiner selbst bewusst.
Wer im Dritten Reich eine Gaumenspalte
hatte, wusste, so habe ich es später in einer
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