2011•032 - T E X T:
Abiturrede des Schulleiters Oberstudiendirektor Herbert Huesmann
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
stellt Euch bitte für einen Moment vor, dass ihr von mir hier und jetzt aufgefordert würdet, nach einigen Minuten des Nachdenkens Eure nahe Zukunft zu beschreiben. Wäre das nicht ein reizvolles Experiment, endlich mal etwas Neues, statt des gnadenlos frontalen Vortrags einer traditionsgebundenen Abiturrede durch den Schulleiter eine interaktive, möglicherweise sogar alle Eingeladenen einbeziehende Form perspektivischen Nachdenkens mit gänzlich offenem Ausgang?
Nun, nicht nur das Arrangement der Sitze in diesem Saal, nein, wohl auch einige sowohl rationale als auch irrationale Reserven lassen mich davon Abstand nehmen. Ersatzweise möchte ich jedoch auf ein Experiment hinweisen, das, wie Frank Schirrmacher in seinem 2009 erschienenen Buch Payback berichtet, der amerikanische Anthropologe Michael Wesch im Jahre 2007 an einer amerikanischen Universität mit 17-jährigen Studenten durchgeführt und als Videobotschaft unter dem Titel „Eine Vision der Studenten von heute“ ins Netz gestellt hat. Wesch, der zuvor mehrere Jahre in Guinea die Folgen der Alphabetisierung in einer schriftlosen Kultur erforscht hat, lenkt seinen Blick damit, so Schirrmacher, auf die „digitalen Eingeborenen des 21. Jahrhunderts“, für die eine Welt ohne Computer, Handy oder Internet schlechterdings nicht vorstellbar ist. In einem karg ausgestatteten, heruntergekommenen Hörsaal recken die Studenten folgende Botschaften in die Kameras:
- In meinem Seminar sind 115 Leute.
- Ich beende 49% Prozent der Bücher, die ich lesen muss.
- Ich kaufe für 100 Dollar Seminarbücher, die ich niemals aufschlage.
- Ich werde dieses Jahr acht Bücher lesen, 2300 Webseiten und 1281 Facebook-Profile.
- Ich bin 3 ½ Stunden pro Tag online.
- Ich verbringe 2 Stunden am Tag an meinem Handy.
- Ich werde dieses Semester 42 Seiten Seminararbeiten schreiben und über 500 Seiten Emails.
- Dieser Laptop kostet mehr, als manche Menschen im Jahr verdienen.
- Ich facebooke durch die meisten meiner Vorlesungen.
- Das bringt mir nichts. (Student zeigt Multiple-Choice-Test).
- Ich bin ein Multitasker. (Ich bin dazu gezwungen.)
Werfen all diese Aussagen nur ein aktuelles Schlaglicht auf die Ausbildungssituation an einer durchschnittlichen amerikanischen Universität, oder sind sie darüber hinaus repräsentativ für die Situation auch in Europa, nicht zuletzt in Deutschland? Die immens hohe Zahl von über 8 Millionen Downloads, die der Film innerhalb kürzester Zeit zu verzeichnen hatte, die Resonanz, auf die er an Universitäten in der ganzen Welt stieß, nicht zuletzt unsere eigenen Erfahrungen sprechen für letzteres. Seminare an deutschen Universitäten sind noch immer so überfüllt wie zu meinen Studienzeiten vor über 40 Jahren. Die in den 70-er Jahren eingeführten, oft zum oberflächlichen Erlernen partieller Fakten einladenden Multiple-choice-Tests sind als
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