2009•033 - T E X T:
Doch es kommt noch schlimmer. Frau Meckel entdeckt auf dem Display ihres Mo biltelefons zwei Nachrichten. Zwei Anrufer haben sie in der Zwischenzeit an nicht eingehaltene Verabredungen erinnert, Just in diesem Moment piepst ihr Blackberry und weist sie auf eine Telefonkonferenz hin, die - ausnahmsweise - aufgrund drängender Probleme an einem Samstag morgen stattfinden müsse.
Entnervt betritt Miriam Meckel schließlich den Lampenladen, kramt das defekte Halogenlämpchen hervor, um dafür Ersatz zu bekommen, und erfährt von einer gut gelaunten älteren Verkäuferin: Dat hammer nisch!"
Unsere Autorin nahm das frustrierende Erlebnis jenes Samstagmorgens zum Anlass einer intensiven Überprüfung ihrer Lebensweise. Ohne dass ihr Arbeitsvolumen gewachsen wäre, hatte sich ihr Alltag infolge ihrer permanenten Erreichbarkeit gründlich geändert. Angeschlossen an alle möglichen Kommunikationskanäle, wurde sie ständig in ihrer Arbeit unterbrochen, um ihre Konzentration und damit die Möglichkeit gebracht, Probleme in Ruhe und ohne Zeitdruck zu überdenken. "Ich war", so sagt sie, "zu jener Spezies Mensch mutiert, die angeblich alles gleichzeitig kann. Ich war geworden, was ich nie sein wollte: ein Simultant."
Dass die Lebensform des Simultanten für den Betroffenen schlimme gesundheitliche Folgen haben kann, die Mediziner und Psychologen als Attention Deficit Trait (ADT), als Aufmerksamkeitsstörung, also als einen Zustand der Ruhelosigkeit und Irritierbarkeit und der eingeschränkten Leistungsfähigkeit bezeichnen, mögen wir alle wohl schon geahnt haben. Auch lässt uns der gesunde Menschenverstand vermuten, dass Unternehmen, die ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern permanentes Multitasking abverlangen, sich selbst keinen Gefallen tun. Das Ausmaß der volkswirtschaftlichen Konsequenzen ist jedoch wohl eine Überraschung: Die Unternehmensberatung Basex hat für die USA ermittelt, dass 28% der täglichen Ar beit eines Wissensarbeiters auf ungewollte oder unnötige Unterbrechungen entfallen. Dies entspricht einer Zahl von 28 Milliarden verlorenen Arbeitsstunden und ver ursacht bei durchschnittlich 21 US-Dollar pro Arbeitsstunde Kosten in Höhe von 588 Milliarden US-Dollar.
Was, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, ist angesichts der hier nur in wenigen Strichen skizzierten Situation zu tun?
Üblicherweise werden Abiturientinnen und Abiturienten in Entlassreden aufgefordert, sich den Herausforderungen der Zukunft mit Optimismus, Energie und Tatkraft zu stellen. Das alles hat ja wohl auch seine Berechtigung. Gleichwohl möchte ich Euch dringend raten, Euch ein gewisses Maß an Wandlungsträgheit, ja sogar ein Recht auf Langsamkeit zuzugestehen. Glücklicherweise wird ein solcher Anspruch seit etlichen Jahren von verschiedenen Seiten anerkannt. So hat Sten Nadolny in seinem bereits 1983 erschienenen Roman Die Entdeckung der Lang samkeit mit großer poetischer Sensibilität den Lebenslauf des Seemannes und Entdeckers John Franklin erzählt, der - wie es zunächst scheinen mag - von der Langsamkeit geradezu wie vom Stigma einer Behinderung gezeichnet ist. Die Langsamkeit des John Franklin entwickelt sich im Verlauf des Romans jedoch immer mehr zu einem Vorzug, nämlich zu der Gabe, auf die innere Stimme zu hören, einmal Erfasstes auch wirklich zu behalten und im Wirrwarr unterschiedlicher Sinneseindrücke das wichtige, entscheidende Detail nicht aus dem Blick zu verlieren. So findet er seinen eigenen Rhythmus, und sein eigener langer Atem schützt ihn, wie er selber sagt, vor allen "scheinbaren Dringlichkeiten", vor "angeblichen Notwendigkeiten" und "kurzlebigen Lösungen".
Auch Miriam Meckel treibt die Frage um, wie es uns gelingen kann, " ... die Errungenschaften der technologischen Ver netzung, der umfassenden Erreichbarkeit [zu] nutzen und gleichzeitig den Blick für das Wichtige [zu] bewahren ... , aktiver Teil der Gesellschaft zu sein und gleichzeitig unser privates Leben gegen die Invasion der modernen Ansprüche zu verteidigen". Ganz konkret rät sie, Prioritäten zu setzen, d.h. sich auf die Verarbeitung wichtiger Informationen zu konzentrieren, auch regelmäßig den Abschaltknopf zu betätigen, um die eigene Unerreichbarkeit zu sichern. Nur so könne der Mensch sein "Recht auf eine kommunikative Identität", also auf die "Ausgestaltung der Kommunikation [als] Grundmodus seines sozialen Lebens" sichern. Ein solcher Lebensentwurf setzt, so Miriam Meckel, jedoch die Bereitschaft zu gelegentlichem Müßiggang voraus. Müßiggang habe rein gar nichts mit Faulheit und Trägheit zu tun, sondern bedeute, dass es auch in der Zeit umfassender Vernetzung und Mobilität Zeit- und Lebensräume gebe, in denen externe Anforderungen uns nicht am Denken hindem, in denen wir uns schließlich auch jenen Menchen zuwenden können, die uns besonders nahe stehen. Miriam Meckel betont in diesem Zusammenhang,
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