2012•039 - T E X T:
Abituransprache des Schulleiters Herbert Huesmann
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten!
Mit dem Kopf sagt er nein
Aber mit dem Herzen sagt er ja
Er sagt ja zu allem was er mag
Er sagt nein zum Lehrer
Er steht da
Er wird geprüft
Und alle Aufgaben sind gestellt
Plötzlich ergreift ihn ein irres Lachen
Er wischt alles aus
Die Ziffern und die Wörter
Die Daten und die Namen
Die Lehrsätze und die Fangfragen
Und trotz der Drohungen des Lehrers
Verspottet von den Wunderkindern
Nimmt er alle bunten Kreiden
Auf der schwarzen Unglückstafel
Malt er das Gesicht des Glücks
Diese Worte, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, sind beileibe nicht das Protokoll einer Eurer Unterrichtsstunden der letzten Jahre, nein, es ist die deutsche Übersetzung von Jacques Préverts berühmtem Gedicht Le cancre, das der erstmals im Jahre 1946 erschienenen Sammlung Paroles angehört. Der - kaum übersetzbare - Titel wird meistens nur ganz unvollkommen mit „Der Faulpelz“ wiedergegeben, doch dazu gleich mehr. Dieses Gedicht ist im Kanon der an französischen Schulen gelesenen Texte fest verankert. Prévert zeichnet darin das Bild eines Schülers, der sich den Erwartungen des Lehrers „vom Kopf her“, also bewusst verweigert, aber genauso entschieden mit seinem Herzen das bejaht, was ihm gefällt. So reagiert er auf jedwede Prüfungsanforderung nicht nur mit einem „irren Lachen“, sondern entfernt alle Aufgaben und Fragen, mit denen man ihn traktiert, kurzerhand aus seinem Blickfeld und, ungeachtet der Drohgebärden des Lehrers und des Spotts seiner als „Wunderkinder“ apostrophierten Mitschüler, malt er mit bunter Kreide „das Gesicht des Glücks“ auf die Unglückstafel: sur le tableau noir du malheur / il dessine le visage du bonheur.
Dass Ihr, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, im vollen Glücksgefühl der bestandenen Abiturprüfung durchaus Sympathie mit dem „il dit oui à ce qu’il aime / il dit non au professeur // er sagt ja zu allem was er mag / er sagt nein zum Lehrer“ verspüren dürftet, kann ich sehr gut nachempfinden. Und wer von uns empfände keine Bewunderung für den kleinen „cancre“, der sich, eingebunden in das rigide Unterrichtsschema des „cours magistral“ – im Vergleich dazu ist der inzwischen so heftig kritisierte Frontalunterricht deutscher Prägung eine schon beinahe chaotische Veranstaltung – in der Attitüde der von den Franzosen so geschätzten „Revolte“ übt. Und für seine Auflehnung gegen die Autorität des Lehrers, für seine Gehorsamsverweigerung, für sein Streben nach Freiheit und Kreativität, nach der bunten Vielfalt des Lebens wird er, wie wir gehört haben, mit einer Vision des Glücks belohnt.
Im Jahre 2007 erregte ein „cancre“ in Frankreich erneut Aufsehen. Dieses Mal handelte es sich jedoch nicht um eine fiktive Figur, sondern um den einer breiten Leserschaft längst bekannten, 1944 geborenen Autor Daniel Pennac, der, bevor er sich ganz der Schriftstellerei verschrieb, 20 Jahre als Lehrer gearbeitet hatte. In seinem bald an der Spitze der französischen Bestsellerlisten rangierenden Buch Chagrin d’école, das 2009 unter
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