2015•076 - T E X T:
mehr erschlossen. Und im Erinnerungsjahr
2015 – vor 70 Jahren endete
der II. Weltkrieg – wird es genauso sein.
Unsere Politiker fordern in diesen Zeiten
völlig zu Recht die, wie sie es neuerdings
gerne nennen, Narrative ein, in denen
nicht nur die Abfolge historischer Ereignisse,
sondern auch ihre Hintergründe
dargestellt und erklärt werden. Diese
Narrative bedürfen jedoch dringend der
Ergänzung durch Bilder, durch die das
in Worten Mitgeteilte veranschaulicht
und dem Gedächtnis wirksam eingeprägt
wird. Wenn wir uns in diesem Moment
spontan an eine der historischen Ausstellungen
erinnern, die wir im vergangenen
Jahr oder zu einem anderen Zeitpunkt
besucht haben, tauchen in unserem Gedächtnisspeicher
zuerst Bilder auf, die
dann eine Brücke zu bestimmten Ereignissen,
Personen oder Handlungsabläufen
schlagen. Im Theater, und damit auch
bei Pustekuchen, ist dies ähnlich. Machen
wir die Probe aufs Exempel: Ich bin mir
ganz sicher, dass ich nicht der Einzige in
diesem Saal bin, der die Aufführung von
Wolf Biermanns 1970 erschienenen Singspiel
Der Dra-Dra im Jahre 1990 spontan
mit dem Bühnenbild assoziiert, jener bis
in den Zuschauerraum hineinragenden
Nachbildung der Hünenborg und dem
auf eine Leinwand im Hintergrund der
Bühne projizierten Foto des Langemarck-
Denkmals. Von diesem Ausgangspunkt
erinnere ich mich dann, dass Pustekuchen
Biermanns Parabel von dem sein
Volk verschlingenden und terrorisierenden
Drachen auf den Westen und unsere
Stadt übertragen hat. Einen Skandal mit
weitreichenden Folgen wie bei der Uraufführung
des Stückes in den Münchener
Kammerspielen im Jahre 1971 gab
es deswegen nicht; Pustekuchen hatte
gründlich recherchiert und, im Unterschied
zu den Kammerspielen, persönliche
Verunglimpfungen vermieden. Bilder
entstehen im Theater jedoch nicht nur
durch die Kulisse, sondern auch durch
intelligente choreographische und inszenatorische
Einfälle. Hat Pustekuchen
in seiner bislang letzten Inszenierung,
dem King Lear, der vierten Bearbeitung
eines Shakespearestückes, den Sturm
auf der ostenglischen Heide nicht durch
eine beeindruckende, von aufwühlenden
Klängen begleitete Tanzeinlage simuliert,
durch die die Irrungen der handelnden
Personen genial ins Bild gerückt werden?
Kann man überhaupt je vergessen, wie
im Jahre 1993 Simon Brose als artistisch
über diese Bühne tanzender Puck im Sommernachtstraum
die Fäden der Handlung
zog? Und hätte Christian Dietrich Grabbe,
der 1822 in Scherz, Satire, Ironie und
tiefere Bedeutung den zeitgenössischen
Literaturbetrieb, aber auch Lehrer und
die feine Gesellschaft satirisch aufs Korn
nimmt, nicht seine helle Freude gehabt,
wenn er die Verwandlung dieser Aula in
ein von schwarz-rot-goldenen Bändern
eingefasstes Zelt des Zirkus Deutschland
und das Programmheft mit einer auf der
Frontseite platzierten Abbildung eines
Baumes, der, mit einer Jakobinermütze
gekrönt, eindeutig als Symbol der französischen
Revolution zu identifizieren
ist, gesehen hätte? Und hätte er sich nicht
köstlich amüsiert über die Szene, in der
der kleine Tino-Teufel in Alfredissimos
Fernsehtalkshow genussvoll vom Baum
der Erkenntnis isst, während sich der
große Martin-Teufel ungeniert in eindeutiger
Absicht an den Baum stellt? Wurde
hier nicht in einer dem klamaukhaften
Charakter des Stückes entsprechenden
Bildersprache vermittelt, dass Freiheit
ein dem Menschen anvertrautes Gut ist,
das er sich zu Nutzen machen, aber auch
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