2015•077 - T E X T:
missbrauchen kann? Ich bin fest davon
überzeugt, dass all diese Beispiele auch
ein Beleg für die einzigartige Intensität
sowohl der analytisch reflektierten Auseinandersetzung
mit Literatur als auch
der umfassenden ästhetischen Sensibilisierung
einer kreativ-spielerisch arbeitenden
Theatergruppe sind.
Ad 2: 25 Jahre Auseinandersetzung mit
Zeitgeist und Geschichte – der Untertitel
des Festschriftartikels von Ulrich Baggemann
verweist auf die pädagogische Verpflichtung,
der sich Pustekuchen von Anfang
an gestellt hat. Da es nicht schadet,
sich zunächst einmal althergebrachter
Regeln zu erinnern, mag man vermuten,
dass die Absichten und Ziele von Pustekuchen,
ganz allgemein betrachtet, im
weiten Spannungsfeld zwischen prodesse
und delectare, zwischen Nützen und
Erfreuen, verankert sind, zwischen jenen
Polen also, an denen sich im Sinne einer
klassischen Poetik Sinn und Zweck von
Literatur orientieren. Auf die Funktion
des prodesse verweist indes der Untertitel
in Ulrich Baggemanns Aufsatz. Wir
mögen wohl an Friedrich Schiller denken,
der in einer Was kann eine gute
Schaubühne eigentlich wirken? betitelten
Antrittsvorlesung vor der kurpfälzischen
Deutschen Gesellschaft in Mannheim
im Jahre 1784 ausführt, dass „die
Schaubühne […] mehr als jede andere
öffentliche Anstalt des Staats eine Schule
der praktischen Weisheit, ein Wegweiser
durch das bürgerliche Leben, ein unfehlbarer
Schlüssel zu den geheimsten Zugängen
der menschlichen Seele“4 sei. Er
weist dem Theater damit eine eindeutig
gesellschaftspolitisch definierte, aufklä-
4 Schillers Werke, Vierter Band, Insel Verlag
Frankfurt am Main, 1966; S. 14.
rerische Funktion zu, die im weitesten
Sinn in dem über lange Jahre gern zitierten
allgemeinen Lernziel, die Schülerinnen
und Schüler zu Selbstständigkeit
und Selbstverwirklichung in sozialer
Verantwortung zu erziehen, aufgehoben
ist. Ein erzieherischer, in einem umfassenden
Sinn aufklärerischer Impetus hat
die Arbeit von Pustekuchen von Anfang
an gekennzeichnet. Exemplarisch seien
nur einige der Schwerpunkte genannt.
Bei einem Blick in die Aufführungsliste
finden wir in der Frühzeit, im Jahre 1988,
mit dem Stück Oben mit Hut, unten mit
Tüte eine Eigenproduktion zum Thema
„Aids“, das damals hochaktuell war. Eines
hochaktuellen Themas nimmt sich Pustekuchen
einmal mehr erst vor kurzem,
2012, an, als man sich, wie etliche andere
Schulen, an die Inszenierung von Theresia
Walsers King Kongs Töchter wagt
und dabei die Fragwürdigkeit, ja die als
Menschlichkeit getarnte Unmenschlichkeit
der Pflegerinnen Carla, Berta und
Meggie entlarvt. Der Auseinandersetzung
mit dem Nationalsozialismus, mit
Neonazismus und Ausländerfeindlichkeit
stellt sich Pustekuchen von Anfang an. Zu
nennen sind in diesem Zusammenhang
insbesondere die Inszenierungen von
Leonie Ossowskis Grips-Theaterstück
Voll auf der Rolle im Jahre 1987, Bertolt
Brechts Die Kleinbürgerhochzeit im Jahre
1998, sechs Jahre später dann George
Taboris Die Kannibalen und gewiss auch
Ionescos Die Nashörner im Jahre 2013.
In welchem Maße oft die große mit der
Lokal- und Schulgeschichte verknüpft ist,
entdeckt Pustekuchen in einer besonders
spektakulären Weise bei den Vorbereitungen
der Inszenierung der Kleinbürgerhochzeit.
Bei der Aufarbeitung des
historischen Hintergrunds beschäftigt
man sich auch mit der Machtübernahme
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